Initiative von über 50 Akteur:innen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen

#GesundheitUnteilbar

Aufruf anlässlich der Bürgergeldreform

Berlin, 20.11.2025

Unsere sozialen Sicherungssysteme zurückzubauen und Menschen ungleich zu behandeln, gefährdet nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch die Gesundheit! Als Initiative #Gesundheit Unteilbar [1] verurteilen über 50 Akteur:innen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, darunter das Zentrum ÜBERLEBEN, die Pläne der Bundesregierung zur Reform des Bürgergeldes und den bereits im Voraus angekündigten Ausschluss von ukrainischen Geflüchteten aus dem regulären sozialen Sicherungssystem. Sie warnen vor wachsender Armut und Ausgrenzung. Beides macht krank. Das deutsche Gesundheitssystem ist nicht in der Lage, dem zu begegnen.

Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt zu. Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen – 15,5 Prozent der Bevölkerung oder 13 Millionen Menschen laut dem aktuellen Armutsbericht des Paritätischen. Statt dieses Problem ernst zu nehmen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, setzt die Bundesregierung auf Ausgrenzung und Sozialabbau. Bereits in den vergangenen Monaten wurde Stimmung gegen Menschen in Armut sowie mit Flucht- und Migrationserfahrung gemacht. Der Gesetzentwurf zur „Neuen Grundsicherung“ setzt diesen Kurs verschärft fort: Sanktionen bis hin zum vollständigen Leistungsentzug, Wegfall von Karenzzeiten und Absenkung von Schonvermögen sowie faktische Leistungskürzungen, weil die Regelsätze nicht mehr an die Inflation angepasst werden sollen. So werden Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, unter Druck gesetzt. Für ukrainische Geflüchtete sind die sich bereits in Diskussion befindlichen Kürzungen durch den Rechtskreiswechsel besonders drastisch: Sie sollen rückwirkend ab dem 1. April gänzlich aus dem regulären Sozialsystem ausgegliedert werden und sollen nur noch Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit erheblich niedrigeren Regelsätzen und eingeschränkter Gesundheitsversorgung haben – ein diskriminierendes Sondersystem, das die strukturelle Ungleichbehandlung von Menschen im Asylverfahren und in Duldung seit über 30 Jahren festschreibt. Diese Maßnahmen werden niemandem helfen, Armut zu überwinden und in Arbeit zu kommen, sondern den Druck auf zivilgesellschaftliche Strukturen und soziale Einrichtungen sowie letztlich auch auf das Gesundheitssystem erheblich erhöhen.

Denn Armut macht krank: Zahlreiche Studien – darunter der aktuelle WHO-Bericht – zeigen seit Jahrzehnten, wie stark sozio-ökonomische Bedingungen die Gesundheit beeinflussen. Finanzielle Not, schlechte Wohnverhältnisse und geringe Bildung erhöhen das Risiko für Krankheiten deutlich. Menschen, die sich um ihre Existenz sorgen müssen und von Bildung und sozialer Teilhabe ausgeschlossen sind, leben häufiger mit chronischen Erkrankungen und haben eine signifikant kürzere Lebenserwartung. Laut Berechnungen des Robert-Koch-Instituts (2024) sterben Frauen in benachteiligten Regionen 4,3 Jahre früher als in wohlhabenden Gegenden, Männer sogar 7,2 Jahre früher.

Gleichzeitig ist das deutsche Gesundheitssystem, wie es aktuell aufgestellt ist, nicht in der Lage, diesem wachsenden Bedarf zu begegnen. Es ist bereits stark überlastet und steht nicht allen Menschen offen: lange Wartezeiten, fehlende Angebote in ländlichen oder ärmeren Regionen, Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten, Sprachbarrieren, mangelnde Informationen und bürokratische Hürden erschweren den Zugang zu Versorgung. Geflüchtete Menschen sind besonders betroffen: In den ersten 36 Monaten erhalten sie nur eingeschränkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, was oft eine rechtzeitige Behandlung verhindert. Auch andere marginalisierte Gruppen – etwa wohnungslose Menschen, Personen ohne Krankenversicherung oder mit Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Aufenthaltsstatus oder Behinderung(en) – werden im aktuellen Gesundheitssystem strukturell benachteiligt, ihre besonderen Bedarfe kaum berücksichtigt. Menschen in Armut leben oft unter belastenden Bedingungen, die ihre Gesundheit gefährden und eine Versorgung erschweren. Wer mit Schulden, Mietrückständen oder fehlendem Geld für Lebensmittel kämpft, schiebt notwendige Arztbesuche häufig auf. Im Gesundheitswesen fehlen psychosoziale Angebote, die über das rein Medizinische hinausgehen und die Gesundheit langfristig fördern. Wenn bestimmte Gruppen strukturell schlechteren Zugang zur Versorgung haben, belastet das auch das Gesundheitspersonal. Komplexe Problemlagen erfordern Zeit und Ressourcen – doch diese fehlen im zunehmend ökonomisierten Gesundheitswesen. Das führt zu Frust bei Fachkräften, die ihrem beruflichen Anspruch, Menschen angemessen zu versorgen, so nicht entsprechen können.

Diese Lücken zu schließen und Unterstützung für marginalisierte Menschen bereitzustellen, hängt aktuell maßgeblich von Ehrenamt, Wohlfahrt und privaten Spenden ab, welche die Sparpolitik von Bund, Ländern und Kommunen im sozialen Bereich jedoch nicht länger abfedern können. Zahlreiche Angebote und Projekte sozialer Einrichtungen mussten bereits beendet werden, während sich die sozio-ökonomische Situation ihrer Klient*innen zuspitzt.

Armut macht nicht nur krank – auch Krankheit führt in die Armut und verhindert gesellschaftliche Teilhabe: Daten des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2024 zeigen beispielsweise, dass der häufigste Grund für private Überschuldung mit 18,1 Prozent „Krankheit, Sucht oder Unfälle“ ist, noch vor Arbeitslosigkeit. Wer krank ist, wird häufig daran gehindert, gleichberechtigt an der Gesellschaft, an Bereichen wie Arbeit, Bildung oder Politik teilzunehmen. Soziale Ungleichheit und Kürzungen im sozialen Bereich gefährden daher nicht nur die Gesundheit Einzelner, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn Menschen sich ausgeschlossen oder abgehängt fühlen, schwindet ihr Vertrauen in demokratische Institutionen – mit Folgen für die Stabilität unserer Demokratie.

Den Teufelskreis der Armutsgefährdung zu durchbrechen und Menschen in Beschäftigung zu bringen, wird also nicht gelingen, indem man Menschen gängelt und unter Druck setzt, ihnen existenzsichernde Leistungen entzieht und weiter in die Armutsfalle drängt. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die Rechtsextreme schwächen wird man nicht, indem man Geflüchtete und Migrant*innen durch Sondersysteme wie das Asylbewerberleistungsgesetz benachteiligt und von regulärer Gesundheitsversorgung ausgrenzt. Durch diese Erzählungen und Politik werden lediglich Ressentiments und Vorurteile geschürt und befördert. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Demokratie und in den Sozialstaat sind sowohl ein verlässliches soziales Sicherungssystem als auch ein für alle zugängliches und gerechtes Gesundheitswesen unerlässlich.

Als Bündnis #GesundheitUnteilbar, als zivilgesellschaftliche Initiativen, Nichtregierungs- und Migrant*innenorganisationen, Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen, Wohlfahrts- und Sozialverbände, Gewerkschaften und viele mehr fordern wir deshalb eine verantwortungsvolle Sozial-, Migrations- und Gesundheitspolitik, die alle Menschen in den Blick nimmt, menschenrechtsbasiert agiert und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.

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[1] Hintergrund #GesundheitUnteilbar: Am 18. Februar dieses Jahres haben über 150 Akteure aus dem Gesundheits- und Sozialwesen in einem Appell „Gesundheit Unteilbar“ ihre Stimme gegen Ausgrenzung und für einen verbesserten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung erhoben. Darin prangern sie die populistische Rhetorik und Politik gegen Migrant*innen, geflüchtete und armutserfahrene Menschen an, die die Gesellschaft spaltet, aber keine Probleme löst. Stattdessen fordern sie, dass der Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen verbessert werden muss.