Newsletter 1/2019 – Interview

Lieber auf dem Mittelmeer sterben…

Fabian Melber ist Mitglied der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch und bereits selbst als Helfer und Fotograf an Rettungseinsätzen auf dem Mittelmeer beteiligt gewesen. Neben einer fotografischen Dokumentation sind viele Eindrücke von verzweifelten Menschen geblieben, für die der Tod auf dem Mittelmeer erträglicher scheint, als die unmenschlichen Zustände in Libyen.

Herr Melber, wie lässt sich die aktuelle Situation der freiwilligen Seenotrettung beschreiben?

Was wir seit einiger Zeit erleben, ist die Kriminalisierung der Seenotrettung. Schiffe werden aus fadenscheinigen Gründen beschlagnahmt und festgehalten, Rettungseinsätze werden von zuständigen Behörden systematisch blockiert. Selbst wenn wir es schaffen, Geflüchtete zu retten und an Bord zu holen, ist es sehr schwierig einen sicheren Hafen und ein Land zu finden, das sich bereit erklärt, die Geflüchteten aufzunehmen. Die Folge ist, dass die Schiffe teilweise wochenlang vor den Häfen liegen, dass Essen und Trinken knapp werden. Das ist für alle an Bord eine extreme Situation.

Welche Rolle spielt die libysche Küstenwache?

Libysche Akteure werden durch EU-Gelder gestärkt und ausgebildet. Seither sind die Einsätze in der Seenotrettung noch gefährlicher geworden. Es kam schon vor, dass Schiffe während der Rettungsaktionen von libyschen Booten aus angegriffen wurden. Viele Hilfsorganisationen ziehen sich aus diesem Grund zurück. Zudem ist die Situation für die Geflüchteten in Libyen unerträglich. Sie berichten von Folter, sexueller Ausbeutung und Versklavung. Sie werden verkauft und unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten. Eine funktionierende staatliche Gewalt gibt es nicht.

Sie sind selbst als Fotograf und Helfer an Rettungseinsätzen von Sea-Watch beteiligt gewesen. Was haben Sie dort erlebt?

Es sind ganz bestimmte Situationen, die besonders stark nachwirken. Der Moment der Erleichterung, wenn es Menschen aus dem Wasser auf das Rettungsschiff geschafft haben, ist unglaublich emotional. Er schweißt die Menschen – egal, ob Retter*innen oder Gerettete – zusammen. Die Erleichterung, es aus Libyen herausgeschafft zu haben, ist für die Geflüchteten überwältigend.

Was konnten Sie über die Menschen erfahren, die Sie gerettet haben?

Man hat sofort gespürt, dass es unter den Geflüchteten eine große Verbundenheit gibt. Viele sind allein geflohen, aber es gab auch Mütter mit Kindern. Die Fluchtgründe sind verschieden. Einige fliehen vor Hunger, einige vor Boko Haram oder ähnlichen Organisationen. Andere wurden aufgrund ihrer Religion, der politischen Einstellung oder Ethnie verfolgt. Und wieder andere fliehen vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat. Praktisch alle haben während der Flucht Bekannte verloren oder sogar sterben sehen. Für einige ist es schon die dritte Überfahrt. Sie würden lieber auf dem Mittelmeer sterben als in Libyen zu bleiben. Der Weg über das Meer ist meist auch buchstäblich der einzige Weg, um aus Libyen rauszukommen. Die Grenzen werden von Milizen oder anderen Einheiten kontrolliert, die die Geflüchteten sofort wieder in Gefangenschaft nehmen.

Mit welchen Hoffnungen begeben sich die Menschen auf die lebensgefährliche Überfahrt?

Die Wenigsten haben eine ganz konkrete Vorstellung. Die meisten suchen Sicherheit, Bildung, gesellschaftliche Akzeptanz und Teilhabe. Selbst wenn ihnen klar ist, dass sie wahrscheinlich abgeschoben werden, versuchen sie es immer wieder. Ganz einfach, weil sie keine Alternative haben. In ihrer Heimat werden sie verfolgt oder haben nichts zu essen, in Libyen werden sie misshandelt und wie Sklaven gehalten. Da ist die Fahrt über das Mittelmeer und der Aufenthalt in Europa das geringste Übel.

Wie ist die Situation an Bord nach einer Rettung?

Zunächst versorgen wir die Geretteten mit dem Nötigsten, also mit Wasser, Essen, Decken. Wir schauen, wer am dringendsten Hilfe benötigt, wie zum Beispiel schwangere Frauen. Außerdem haben wir einen Arzt für die medizinische Versorgung an Bord. Ansonsten versuchen wir viel Zeit mit den Menschen zu verbringen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken oder auch Ruheräume zu schaffen. Gerade zu Beginn gibt es viele positive Momente, in denen man sich relativ entspannt über ganz unterschiedliche Themen austauscht. Mit zunehmender Dauer wird die Stimmung jedoch angespannter. Die Menschen haben viele Fragen und Ängste. Wir versuchen dann, sie über die nächsten Schritte aufzuklären. Viele gehen dann ängstlich von Bord.

Nach belegbaren Zahlen sind im vergangenen Jahr über 2.200 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Gibt es eine ungefähre Schätzung wie hoch die tatsächliche Zahl ist?

Das Problem ist, dass die meisten Vorfälle vor der libyschen Küste stattfinden. Das ist für uns eine große Blackbox. Die Strandabschnitte sind ständig unter wechselnder Kontrolle. Es gibt kaum unabhängige Akteure vor Ort. Deren Berichte sind dann teilweise sehr unterschiedlich. Die Bootsgrößen und Besetzungen sind sehr verschieden. Da diese natürlich nirgendwo dokumentiert sind, lassen sich gemachte Angaben auch nicht überprüfen. Wir können aber sicher davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl von ertrunkenen Menschen viel höher ist.

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Foto: Fabian Melber