Fallgeschichte
Wenn Lager zum nächsten Trauma werden – Lishas Geschichte
28.1.2021
Lisha* H. ist Klientin im Wohnverbund für Migrantinnen. Im Gespräch mit der Leiterin Susanne Höhne entsteht ein Bild über ihre Geschichte. Sie ist eine jener traumatisierten Geflüchteten mit komplexen Fluchtgründen, die an der Lagererfahrung auf europäischem Boden schier zerbrechen. Denn sie berichtet, schon damals an Symptomen gelitten zu haben, die auf eine Posttraumatischen Belastungsstörung hindeuten. Lisha hatte in Nigeria Schreckliches erleben müssen, was die Familie schließlich zur Flucht gezwungen hat.
Susanne Höhne, Leiterin des Wohnverbund für Migrantinnen, erzählt die Geschichte von Lisha. Die Klientin wird seit Anfang 2019 im Wohnverbund betreut und therapeutisch behandelt. Ihre Fluchtgründe sind vielfältig. Sie und ihr Mann flohen mit ihrem gehörlosen Kind, das in der ländlichen Region Nigerias nicht beschult, nicht integriert und nicht behandelt wurde. Durch das Verhalten der Sicherheitskräfte in Ungarn werden bei der Patientin existentielle Bedrohungsmomente reaktiviert und Ängste verstärken sich. Die Abschiebungsgefahr nach Ungarn im aktuell laufenden Asylverfahren unterbricht Behandlungsfortschritte. Die behandelnde Therapeutin stellt bei der Patientin fest, dass sie unter einer rezidivierenden depressiven Störung mit aktuell schwerer Episode leidet. Die Symptome sind Kraftlosigkeit, Grübelschleifen, Lebensüberdruss, Freudlosigkeit und Appetitlosigkeit.
Lishas Geschichte: Lisha kommt aus einem Land, das seit vielen Jahren durch Gewalt und Terrorismus gebeutelt ist. Sie hat recht jung geheiratet. Ihr Mann ist Schmied, die beiden besaßen ein Haus und waren in eine Großfamilie eingebunden. Sie bekommen ein gehörloses Kind, mit dem sie sich nur eingeschränkt austauschen können, weil die sprachliche Basis fehlt. Für gehörlose Kinder gibt es in ihrer ländlichen Gesellschaft weder Verständnis noch spezielle Schulen zum Erlernen einer Gebärdensprache. Ihre Tochter erhält keine medizinische Hilfe. Die Familie kann die teure Operation, die ihnen im Nachbarland in Aussicht gestellt wird, nicht bezahlen. Das Mädchen verbringt sein Leben zum Großteil in den eigenen vier Wänden, wird auf der Straße verspottet und soll die Schule putzen statt am Unterricht teilzunehmen.
Eines Tages erlebt Lisha durch kämpfende Akteure in ihrer Nachbarschaft existentiell bedrohliche Gewalt. Die junge Frau ist schwer traumatisiert, nicht mehr handlungsfähig, fühlt sich tagtäglich gefährdet und ist unfähig, ihre Mutterrolle auszufüllen. Sie sitzt nur noch wie versteinert da. Lishas Mann verkauft alles, um die Familie in Sicherheit zu bringen. Sie begeben sich in die Hände von Schleppern. Lisha kann noch nach Jahren nicht über die monatelange Flucht sprechen.
In Ungarn erlebt Lisha haftähnliche Bedingungen und ein Security-Personal, das bedroht und einschüchtert. Sie erzählt, dass ihnen Handschellen anlegt werden, weil sie mit ihrem hörgeschädigten Kind außerhalb des Camps einen Arzt aufsuchen müssen. Sicherheitskräfte erniedrigen ihr Kind. Sie leben in videoüberwachten Räumen und dürfen das Lager nicht verlassen. Ihre Tochter bringt deutlich zum Ausdruck, dass sie sich wie in einem Gefängnis fühlt. Die Schreckenserlebnisse in ihrem Heimatland kommen hoch. Sie beschreibt Flashbacks, Schlafstörungen mit Alpträumen, Konzentrationsschwierigkeiten, Intrusionen, also ungewollte Erinnerungen, emotionale Taubheit.
Ungarn erteilt innerhalb von 11 Tagen Asyl, aber die Familie fühlt sich weder durch die Behörden noch durch Ansprechpartner*innen unterstützt, sondern auf sich alleine gestellt, verunsichert, überfordert und reist weiter zum ursprünglichen Ziel – nach Deutschland. Sie brauchen Perspektiven für ihr Kind, Sicherheit und Behandlung. In der Gemeinschaftsunterkunft in Berlin wird die Familie von anderen Bewohner*innen aufgefordert, ihre Tochter im Zimmer zu behalten. Durch Laute, Mimik und Gestik stößt sie auf Unverständnis und hat Konflikte mit anderen Kindern. Die Familie sehnt sich nach nichts mehr als nach Sicherheit und einer eigenen Wohnung.
Doch da sie in Ungarn bereits Asyl erhalten hat, wird ihr Antrag in Deutschland abgelehnt. Nach Einreichung der Klage bekommt die Familie nach drei Jahren einen Termin zur nochmaligen Anhörung. Das BAMF ist der Auffassung, dass die Familie in Ungarn nötige Hilfen erhalten könne. Der Rechtsanwalt möchte aktuell einen Abschiebestopp nach Ungarn erwirken. Jeder einzelne Akt in diesem Verfahren wirft die Klientin aus der Bahn. Sie hat darum Probleme, sich auf den Deutschkurs und die deutsche Gebärdensprache zu konzentrieren, die ihre Tochter bereits erlernt.
Susanne Höhne erzählt, dass die nigerianische Familie durch ihre Beratung und begleitende Unterstützung endlich eine eigene Wohnung gefunden hat. Die Tochter, mittlerweile neun Jahre alt, geht in eine Schule für gehörlose Kinder, hat Lernschwierigkeiten, aber erstmals Kontakt zu Menschen mit dem gleichen Handicap. Sie wird therapeutisch und sehr kleinschrittig in unserer Kinder- und Jugendabteilung behandelt – nach acht Jahren Isolation. Die Mutter macht durch die Unterstützung der Bezugsbetreuerin und durch die Therapie Fortschritte, ihre Erlebnisse aufzuarbeiten. Doch jede anstehende gerichtliche Entscheidung wirft sie zurück: dann gerät sie in eine depressive Episode, steht nicht mehr auf und versäumt Termine. Sie wird ihre Erkrankung erst bewältigen können, wenn sie aufenthaltsrechtliche Sicherheit und somit Perspektiven gewinnt.
Jährlich betreuen wir in unserem Wohnverbund über 50 Frauen. Dies können wir nur dank Ihrer Unterstützung leisten. Schenken Sie mit Ihrer Spende geflüchteten Frauen wie Lisha Hoffnung und Kraft, damit sie sich hier ein neues Leben aufbauen können.
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