Folterspurendokumentation

Menschenrechtsverletzungen feststellen und Betroffene auf dem Weg zu ihrem Recht unterstützen

5.12.2024

Folter zu erleben ist unvorstellbar und führt in den meisten Fällen zu Traumata, die Betroffene oft ihr ganzes Leben verfolgen. In Deutschland haben vor allem Menschen mit Fluchtgeschichte damit zu kämpfen. Sie stammen beispielsweise aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, dem Iran oder Irak, in denen zum Teil systematisch gefoltert wird. Studien gehen davon aus, dass bis zu 35 Prozent der Asylsuchenden Folter oder schwere Gewalt erlebt haben. Eine systematische sowie wissenschaftliche Erfassung der Fälle in Deutschland gibt es nicht. Im Gespräch mit Dr. David Keller, Psychotherapeut und Leiter der BNS-Fachstelle im Zentrum ÜBERLEBEN, und Dr. Luciana Degano Kieser, Fachärztin, erfahren wir mehr darüber, wie man Spuren von Folter dokumentiert und warum das so wichtig ist.

Warum führen wir überhaupt Folterspurendokumentationen durch, auf welchen Ebenen kann der Prozess für Betroffene hilfreich sein?

David Keller: Das Sprechen über die eigene Foltergeschichte vor Zeug:innen – Psychiater:innen, Therapeut:innen, Übersetzer:innen – kann sehr belastend sein und erfordert Mut. Darüber zu sprechen kann aber auch als Selbstermächtigung erlebt werden, da so das Bewusstsein entsteht „Jemand nimmt sich die Zeit, meine Geschichte anzuhören und das mir widerfahrene Unrecht festzuhalten“. Wird die aktuelle psychische und körperliche Verfassung mit den Gewalterlebnissen aus der Vergangenheit in Verbindung gebracht, fördert dies auch die Wiederherstellung von Sinn und Kontrolle: es wird klar, „Ich bin nicht verrückt geworden, sondern habe furchtbare Dinge erlebt“. Damit wird zugleich eine wichtige soziale Dimension berührt im Sinne der gesellschaftlichen Anerkennung des erfahrenen Leids. Das ist ein bedeutsamer Faktor für den weiteren Genesungsprozess – neben der Einleitung notwendiger therapeutischer Maßnahmen, die sich aus der Feststellung der gesundheitlichen Folgen ergeben.

Worauf sollte ein:e Gutachter:in bei der Erstellung eines fachärztlichen Attests zu Folterspuren im ersten Schritt achten?

Luciana Degano Kieser: Das Gutachten sollte in einer Atmosphäre erfolgen, die für die zu begutachtende Person ein Gefühl von Sicherheit, Vertrauen und Kontrolle ermöglicht. Eine eingehende biographische Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der Begutachtung, um die Hintergründe der Ereignisse differenziert zu beschreiben und nachvollziehbar zu erklären. Die Begutachtung sollte außerdem in einer strukturierten Weise erfolgen. Zur Einschätzung der Auswirkungen von Erkrankungen und auch Berücksichtigung der Kontextfaktoren kann die ICF – „International Classification of Functioning, Disability and Health“ – ein Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Orientierung dienen.

Was sind Schwierigkeiten, denen ihr bei der Folterspurendokumentation begegnet?

Luciana Degano Kieser: Folter kann zu einer Vielzahl von schwerwiegenden körperlichen und seelischen Traumata führen. Die physischen Folgen reichen von Prellungen und Knochenbrüchen über Brandwunden, Narben, Gelenkschädigungen, inneren Verletzungen und Hirnschädigungen bis hin zu den Folgen von Mangelernährung. Psychopathologische Symptome sind u.a. Ängste, Unruhe, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen bis hin zu Wiedererleben der Foltererfahrung und suizidaler Einengung. Da die Überlebenden in aller Regel erst geraume Zeit nach ihrer Foltererfahrung in Deutschland ärztlich untersucht werden können, sind die körperlichen und psychischen Folgen bei oberflächlicher Betrachtung teilweise unspezifisch, sodass sie ohne eine ausführliche Anamnese, genaue körperliche Untersuchung und gründliche psychopathologische Befunderhebung unter Umständen nur eingeschränkt als Nachweis dienen können. Aus diesem Grund ist eine gründliche psychiatrische Untersuchung von Menschen, die Foltererfahrungen ausgeliefert waren, genauso wichtig wie die körperliche Befunderhebung.

Gibt es bestimmte Standards, die ihr bei der Dokumentation besonders beachtet?

Luciana Degano Kieser: Das Istanbul-Protokoll [2] („Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe“) wurde 2001 erstmals veröffentlicht. In seiner aktuell gültigen Form legt es Standards für die Untersuchung und Begutachtung körperlicher und psychischer Folterfolgen fest. Das Dokument beschreibt sowohl die fachlichen Voraussetzungen als auch die ethischen Verpflichtungen im Umgang mit Patient:innen, die Folter erlebt haben. Das Protokoll geht zurück auf eine Initiative der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei und einer Veranstaltung der türkischen Ärztekammer in Adana im Frühjahr 1996. An dem Handbuch arbeiteten 75 Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen, Rechtsanwält:innen und Aktivist:innen für  Menschenrechte aus 40 Organisationen und 15 Ländern.

In dem Bericht zur Folterspurendokumentation, den Expert:innen erstellen, müssen laut Istanbul-Protokoll folgende Aspekte enthalten sein:

  • Umstände des Interviews/der Untersuchung: Datum, Ort, Art und Adresse der Untersuchungseinrichtung sowie eine Aufzeichnung aller körperlichen und psychischen Befunde bei der klinischen Untersuchung.
  • Hintergrund/Anamnese: Eine detaillierte Aufzeichnung der Schilderung der Ereignisse durch die betroffene Person während des Interviews, einschließlich der Folter- oder Misshandlungsmethoden zum Tatzeitpunkt und aller Beschwerden über körperliche und psychische Symptome.
  • Eine körperliche und psychische Untersuchung: Eine Aufzeichnung aller körperlichen und psychischen Befunde bei der klinischen Untersuchung, einschließlich geeigneter diagnostischer Tests, detaillierte Aufzeichnung der Stelle und Art aller Verletzungen und, wenn möglich eine Fotodokumentation der Verletzungen.
  • Eine schriftliche Stellungnahme: Eine Interpretation hinsichtlich der wahrscheinlichen Zusammenhänge der körperlichen und psychischen Befunde, die durch Folter oder Misshandlung verursacht worden sind. Eine Empfehlung bezüglich aller notwendigen medizinischen und/oder psychologischen Behandlungen oder weiteren Untersuchungen sollte ebenfalls dokumentiert werden.

Der Bericht sollte die Personen, die die Untersuchung durchgeführt haben, und ihre Befugnisse benennen und durch ihre Unterschrift zuordenbar sein.

Welche Maßnahmen gibt es, um Überlebende von Folter in ihrem Genesungsprozess zu unterstützen?

David Keller: Tatsächlich verpflichtet die UN-Antifolterkonvention Deutschland dazu, Folterbetroffenen die Mittel zu verschaffen, die sie für eine möglichst umfassende Rehabilitation benötigen [2]. Auch in der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33) steht, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Betroffene von Folter und anderen schweren Gewaltformen Zugang zu einer adäquaten medizinischen wie auch psychologischen Behandlung bekommen [3]. Juristisch kann die Dokumentation ebenfalls von großer Bedeutung sein, zum Beispiel mit Blick auf das Asylverfahren und die mögliche Zuerkennung eines Schutzstatus. Die Betroffenen wollen nicht nur gesellschaftlich als Überlebende schwerer Gewalt anerkannt werden, sondern als politisch Verfolgte. So verbietet es die UN-Antifolterkonvention beispielsweise, dass Menschen in Länder zurückgeschickt werden, in denen ihnen Folter droht. Mit Blick auf den Aufenthalt kann auch die Frage chronischer Gesundheitsbeeinträchtigungen im Nachgang an das Erlebte relevant sein wie auch die Frage, was ein Abbruch einer eingeleiteten Behandlung bedeuten würde. Abgesehen davon kann die Dokumentation unter bestimmten Umständen für die strafrechtliche Verfolgung von Täter:innen herangezogen werden.

Die Durchführung von Folterspurendokumentation ist im Zentrum ÜBERLEBEN dank einer Förderung der CMS Stiftung möglich.

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[1] Das Zentrum ÜBERLEBEN (früher bzfo) war an der Erarbeitung und Entstehung des Istanbul-Protokolls beteiligt, welches im Jahr 2004 von den Vereinten Nationen als Standard anerkannt wurde (www.istanbul protocol.info).

[2] Siehe Artikel 14 in der Konvention gegen Folter (CAT).

[3] Siehe Artikel 25, EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33).

* Der Schutz unserer Patient:innen ist uns wichtig. Deswegen arbeiten wir mit Anonymisierungen bei Persönlichkeitsdaten und Fotos.