Erfolgsautor sammelt mit Benefiz-Lesung über 6.700 € für uns
Unvergessliche Livestream-Performance von Saša Stanišić
20.4.2020
Es ist eine Lese-Performace der besonderen Art: der sympathische Erfolgsautor Saša Stanišić sitzt vor seiner Wohnzimmer-Wand, leger, zwischendurch plaudernd und einen Schluck Bier trinkend. Der mehrfache Preisträger bedient zwei Kanäle gleichzeitig in seiner Live-Stream-Lesung für das Zentrum ÜBERLEBEN und er ruckelt zwischendurch die Bildschirme zurecht. Man ist per Du mit allen, die sich auf Instagram und Twitch eingeschaltet haben und mit Icons und Halbsätzen ihre Gebanntheit und Begeisterung zum Ausdruck bringen. Diese Parallel-Unterhaltung rollt in einem Seitenfenster unaufhörlich ab.
Um 21 Uhr geht es los und ich sitze in der ersten Reihe – wie alle hier. Saša Stanišić – keine zwanzig Zentimeter entfernt – schlüpft mit Inbrunst in die Rollen seiner Protagonisten, liest mal emotional, mal andächtig, macht Pausen oder spricht den Text auswendig. Sein rollendes „r“ unterstreicht die Wirkung seiner ausgewählten Stellen aus dem autobiografisch geprägten Roman „Herkunft“. Mit diesem hat er den Deutschen Buchpreis 2019 sowie den Eichendorff-Literaturpreis und den Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster gewonnen.
Noch nie zuvor haben wir einen Freitagabend so gefesselt vor digitalen Medien verbracht, um eine Stunde Literatur in einer Gemeinschaft von Hunderten Zugeschalteten zu erleben. Zum fünften Mal streamt der Autor Lesekunst für gute Zwecke. In den paar Wochen seit Ausbruch der Corona-Krise hat er eine Fangemeinde in den Bann gezogen, die zuhört und spendet. Es sind alles in allem 6.760 € für unsere Arbeit zusammengekommen, die Saša Stanišić in höchsten Tönen lobt. Ein unglaublicher Erfolg.
Folgerichtig hat Saša Stanišić Textstellen gewählt, die unsere Arbeit greifbar und spürbar werden lassen. Seine Themen verweben sich mit unserem Thema. Traumatisierung hat der Autor bereits als Junge und Jugendlicher bei Menschen beobachten können, die – wie er und seine Familie – vor dem Krieg aus dem auseinanderfallenden Jugoslawien nach Deutschland geflohen sind. Die Stellen über diese traumatisierten Figuren gehen unter die Haut.
Da ist beispielsweise Dedo, ein Schulfreund des jungen Saša Stanišić und Bosnier, der während seiner Flucht extreme Erfahrungen gemacht hat. Der Autor führt ihn im Roman „Herkunft“ als hochgradig traumatisierten Menschen ein, der nur einschlafen kann, wenn er eine halbe Stunde den Kopf stark hin und her schüttelt – wahrscheinlich, um die Bilder zu verscheuchen. Ein Jugendlicher, der sich wie ein Besessener Fähigkeiten aneignet, getrieben ist, in gewisser Weise süchtig, ohne Ruhe –zuletzt spielt er 8-10 Stunden Tischfussball am Tag. Hier aus dem gehörten Text: „Allen, die mit uns zu tun hatten, war klar, dass Dedo etwas aus der Vergangenheit mit sich schleppte, das größer war als jeder Augenblick seiner Gegenwart. Wir wussten von dem Traktor, wir wussten von dem Mienenfeld und vielleicht war es auch nur das, diese Scheiße so überlebt zu haben. Als wir von seiner drohenden Abschiebung erfahren hatten, flehten wir Dedo an, wir flehten ihn an zum Arzt zu gehen, sprachen mit seinen Eltern. Jeder Psychiater hätte das Trauma sofort erkannt und Dedo hätte nicht zurückkehren müssen. Dedo sagte, er brauche keine Therapie. 1999 wurde er abgeschoben. Er ist nicht bei Facebook, nicht bei Twitter. Ich weiß nicht, wo Dedo ist.“
Dieser Text erzählt auf eindringliche Weise, warum es in unserer Arbeit geht: Traumafolgen, Depression, Posttraumatische Belastungsstörungen, Sucht, Schlafprobleme, das „Wiedererleben“ des traumatischen Ereignisses. Im Zentrum ÜBERLEBEN setzen wir uns dafür ein, dass die Dedos dieser Welt behandelt werden, dass sie eine Chance bekommen. Dafür arbeiten unserer Ärzt*innen, unsere Psychotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, die Sprachmittler*innen und alle Mitarbeitenden im ZÜ.
Durch andere Textstellen wird deutlich, dass der Autor aus Hamburg viel von dem versteht, womit sich geflüchtete Menschen in Deutschland herumschlagen müssen. Er selbst saß in Förderklassen, lernte die „sperrige“ deutsche Sprache (lieben) – „Du verstehst mehr, als Du sagen kannst“. Saša Stanišić kennt den Prozess der Integration und beschreibt ausgiebig die Briefkästen und Vorgärten aus der Heidelberger Vorstadt seiner Jugend – was für ein Symbolbild. Er kennt sogar die Bedrohung durch Abschiebung. Er überzeugt, wenn er für Geflüchtete liest und schafft durch seine Kunst tiefes Verständnis. Vielen Dank Saša!
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