Interview

Fortbildung Vielfalt Pflegen erfolgreich durchgestartet

1.12.2020

Seit Oktober ist die Lernplattform „Vielfalt Pflegen“ online, die als Fortbildung transkulturelle Kompetenzen in der Pflege fördert. Schon in den ersten sechs Wochen haben sich 800 Menschen für die Lernplattform zu »Transkulturalität in der Pflege« angemeldet und bearbeiten die Lernmodule. Sie werden dabei von unseren Kolleg*innen betreut.

Für das Bundesministerium für Gesundheit hat ein Team aus wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, IT- und Multimediaexperten diese eLearning-Plattform entwickelt. Projektleiter Rainer Centmayer von der Berufsfachschule Paulo Freire des Zentrum ÜBERLEBEN im Interview über Ziele, Methoden der Fortbildung und über Transkulturalität in der Pflege. 

Wozu wollt Ihr Pfleger*innen konkret befähigen und warum arbeitet Ihr mit dem Begriff transkulturell?

Eigentlich ist es ganz einfach. Es geht darum, dass jede Patientin oder jeder Patient, unabhängig von Herkunft, Muttersprache und Aussehen, dieselbe Art Pflege verdienen. Das wollen wir vermitteln. Das heißt, dass Pflegekräfte immer zuerst auf das Individuum und auf die Einzigartigkeit im Gegenüber schauen dürfen. Welche Wünsche hat mein Gegenüber? Was fehlt? Was kann ich anbieten? Ohne Vorurteile, ohne Stereotype, ohne Besserwisserei, mit Empathie, Respekt und Toleranz.

Wir beziehen uns explizit auf Dr. Dagmar Domenig, die zu transkulturellen Kompetenzen bzw. im aktuellen Terminus über „Transkategorialität“ Bücher und Artikel publiziert hat. Frau Domenig hat in den letzten Jahren festgestellt, dass nicht nur Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Behinderungen im Gesundheitssystem systematisch benachteiligt werden.  Aber zurück zu den Kompetenzen, die wir vermitteln wollen. Diese Kompetenzen haben vorzüglich damit zu tun, dass wir über uns selbst nachdenken sollten.

Ich versuche es plastischer zu machen am Beispiel der Pflege eines mir fremden Menschen. Abgesehen davon, dass mir alle Menschen fremd sind, gibt es eben auch äußerliche Anzeichen, Kleidung, Mimik, Gestik, Hautfarbe, die mir zeigen: „Upps, der Mensch ist mir fremd.“ Wenn wir hier auf Unverständnis in der Kommunikation stoßen, dann ist da ein schneller Impuls zu sagen: „Achtung, jetzt wird es schwierig, die oder der versteht mich sicher nicht, weil ganz andere Vorstellungen von Essen, von aktiven Zeiten und Schlafenszeiten, über Familie, Gesundheit, Religion und so weiter existieren. Eben eine andere Kultur.“

Und das wollen wir in Frage stellen. Was ist Kultur? Was ist zum Beispiel das typisch Deutsche? Was ist das typisch Europäische? Was ist das typisch Berlinerische? Wie denken und handeln die Menschen in Berlin Ost im Vergleich zu Berlin West? Weißt Du es? Kannst Du es mir sagen? Ich komme aus Bayern. Muss ich jetzt Bier, Leberkäs und Sauerkraut lieben? Das ist schlicht Quatsch. Durch mein soziales Umfeld, durch meine ganz individuelle Geschichte werde ich geformt. Nicht durch Kultur. Nimm meinen Bruder. Er ist ein Jahr älter als ich, gleiche Eltern, selbe Schule, selber Jahrgang, gleiche Lehrer, alles. Aber wir sind komplett verschieden. Zum Glück reden wir wieder miteinander. Bevorzugt mein Bruder Bier, Leberkäs und Sauerkraut? Nein. Definitiv nicht. Hat er jetzt eine andere Kultur?

Und hier beginnt das, wenn Du so willst, Transkulturelle, sich selbst zu hinterfragen: Was ist das eigentlich für ein Instrument, dieser Kulturbegriff? Da will irgendjemand einen Unterschied zwischen Dir und mir konstruieren und sagt „Kultur“. Verstehst Du? Schaffe ich eine Distanz, eine Fremdheit zwischen Menschen, dann habe ich Schwierigkeiten mich dem Gegenüber zu nähern, weil ich durch Irritation unsicher werde. Ich will mich ja an was halten und vor lauter inneren Konzepten sehe ich den Menschen mit seinen Ängsten, Unsicherheiten und Bedürfnissen nicht mehr. Und in dieser Situation kann Pflege nicht gelingen.

Welche Themen werden dabei behandelt?

Die Plattform hat 14 verschiedene Themen, also 14 Lernmodule. Wir versuchen an das Spezielle eines Themas heranzuführen und es zu erläutern, sagen aber im Grunde immer dasselbe. Wir haben zum einen Spannendes produziert zu Intimität und Sexualität, Psychiatrie, Kinderpflege oder fürs Pflegemanagement, und zum anderen Klassiker aufgearbeitet wie die Wichtigkeit der Biografiearbeit, Schmerzmanagement, Ernährung, Sterben und Tod.

Die jeweilige Annäherung und Aufarbeitung des Themas erfolgt so: Der Einstieg in ein Modul ist ein zweiminütiger Animationsfilm mit zwei Pflegekräften, Anna und Noah. Die beiden reflektieren ständig über ihren Alltag und die jeweils zu verhandelnde Herausforderung. Diese Reflexion ist DAS Kernelement der transkulturellen Kompetenz. Der Appell hier ist: Denkt über euch nach, redet miteinander. Es war jedes Mal eine besondere Herausforderung innerhalb von nur zwei Minuten Thema und Handlungsmöglichkeiten zu transportieren. Aber es ist uns gut gelungen.

An zweiter Stelle steht ein Text mit Literaturhinweisen, der das Thema vertieft. Als Drittes gibt es einen vierminütigen Animationsfilm, der praktische Hinweise für den Pflegealltag gibt und den Theorieteil vertieft. Insgesamt haben wir in eineinhalb Jahren über 90 Minuten Film zu 14 verschiedenen Themen produziert. Den Abschluss der Module bilden interaktive Aufgaben, ein Lerntest.

Seid Ihr mit diesem Angebot nah an den Bedarfen in der Pflegepraxis? Was läuft dort noch nicht so gut und wo finden transkulturelle Aspekte noch zu wenig Beachtung?

Machen wir uns nichts vor: Transkategoriale Kompetenzen in der Pflege hat ein Nischendasein, wäre aber zentral. Viele Pflegekräfte sehen nicht den strukturellen Rassismus und die systematische Diskriminierung in unserer Gesellschaft, der sich auch im eignem Pflegealltag widerspiegelt. Die Kenntnis an sich, dass wir alle verschieden sind und verschiedene Bedürfnisse haben, fehlt ja nicht. Aber die oder den Gegenüber zu sehen mit seinen Lebenskonzepten und Lebenserklärungen, das wollen wir im Zweifel nicht, weil wir ja schon an unseren eigenen Lebenskonzepten und Lebenserklärungen zweifeln. Verstehst Du? Wenn wir klar sind, dann können wir auch das Gegenüber sein lassen. Wenn wir nicht klar sind, wer wir selbst sind, dann gelingt Pflege nicht. So einfach ist das. Aber die Pflege hat lieber Anatomieunterricht als Zeit, über sich selbst nachzudenken. Das ist manchmal mein Eindruck.

Jetzt steht Vielfalt Pflegen schon seit 6´sechs Wochen online – was ist seitdem passiert?

Bisher haben sich 800 Teilnehmende aus dem ganzen Bundesgebiet angemeldet, was uns sehr zufrieden stimmt. Wir wären mit 100 User*innen auch zufrieden gewesen. Die Kolleg*innen im Bundesministerium für Gesundheit rühren kräftig die Werbetrommel und davon profitieren wir. Die Evaluationen der Teilnehmenden stimmen uns sehr positiv. Die Plattform wird sehr gut angenommen unter den Pflegenden und sie wurde schon über 5000 Mal von Interessent*innen geklickt.

Ich will mal so sagen: In ganz Deutschland werden ein paar Weiterbildungen zum Thema der so genannten Kultursensibilität oder Interkulturalität für Pflegende angeboten. Ich unterstelle, dass viele Fortbildungen den Kern des Themas gar nicht durchdringen. Das ist schon am Titel der Fortbildungen zu sehen. Und all diese Fortbildungen erreichen ohne Covid 19 in etwa 1000 Pflegekräfte pro Jahr. Lass es 2000 sein. Mit Corona: 0 Teilnehmer*innen. Wir haben in sechs Wochen schon mehr als 800 Teilnehmer*innen. Die Kolleg*innen können nachweisen, dass alle mit dem ersten Modul beginnen, welches grundlegende Begriffe unterscheidet und erklärt,, die ich eben erläutert habe. Insgesamt schon jetzt ein Erfolg. Da tut sich was.

Welche Feedbacks habt Ihr bekommen von den Teilnehmenden?

Bisher haben wir fast ausschließlich ein positives Feedback bekommen. Das führt unter anderem dazu, dass die Plattform in regionalen und überregionalen Newslettern empfohlen wird oder wir Vielfalt Pflegen demnächst in einem Pflegepodcast vorstellen dürfen.

Welchen Impact Vielfalt Pflegen haben sollte, habe ich oben erwähnt. Es sind grundlegende Kompetenzen, die wir versuchen zu vermitteln. Pflege gelingt dann, wenn wir Pflegekräfte uns folgende Fragen stellen und jede*r diese für sich beantworten kann: Wer bin ich? Was ist Pflege? In welcher Gesellschaft leben wir? Was wollen wir wie tun? Das sind einfache Fragen, oder nicht? Wenn wir darauf schlüssige Antworten haben, dann gelingt Pflege. Mit unserer Plattform wollen wir dazu ein wenig Hilfestellung geben. Mit anderen Worten: Ich würde sagen, dass Vielfalt Pflegen sehr praxisrelevant ist.

Um was für Herausforderungen geht es denn bei so einem Modul, z.B. Essen, Trinken, Feiern, Fasten?

Im Modul Essen, Trinken, Feiern, Fasten werden Motivationen und Praktiken zum Beispiel des Fastens angesprochen. Für professionell Pflegende werden konkrete Tipps gegeben, wie ein Umdenken in der Alltagsroutine aussehen könnte, wenn mein Gegenüber oder dessen Angehörige andere Vorstellungen von Essenszubereitung oder Mahlzeiten haben. Das ist wichtig zu wissen, denn Liebe geht durch den Magen. Machen wir es einfacher:

Isst Du dreimal pro Tag? Hast Du Dein Mittagessen um 11:30h? Wieso wird in allen Seniorenheimen in Deutschland um 11:30h das Mittagsmenü serviert? Wieso? Ist das Ausdruck der „deutschen Kultur“? Wieso können wir nicht flexibler sein? Ich brauche am Abend ein Bier und in der Nacht meine Schokolade. Wird mir das serviert, wenn ich später im Altersheim bin? Kann da Pflege gelingen, wenn ich um 8 Uhr frühstücken muss und um 9 Uhr wird abgeräumt? Ich werde störrisch und dann mache ich schnell mein Problem zur Herausforderung Aller. Das verspreche ich Dir. Am Schluss lande ich in der Gerontopsychiatrie? Nur weil ich andere Essenszeiten und Gewohnheiten habe?

Wie viele der 1,1 Millionen Arbeitenden im Pflegebereich wollt Ihr erreichen und wie ist das zu schaffen?

Selbstverständlich möchten wir möglichst viele der professionell Pflegenden erreichen. Corona ist da Fluch und Segen zugleich. Zum einen können wir auf Pflegemessen Vielfalt Pflegen nicht mehr bewerben. Wir schalten Anzeigen in Pflegezeitschriften und werden in sozialen Netzwerken auf uns aufmerksam machen und versuchen, eine kleine Community aufzubauen. Auf der anderen Seite ist ein eLearning Angebot genau das, was in einer Zeit der Kontaktbeschränkung gebraucht und souverän genutzt wird. Wenn wir ein Prozent aller professionell Pflegenden erreichen und es bei einem Prozent dieses Prozentes „Klick“ macht, dann haben wir schon viel erreicht.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

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