Newsletter 4/2018 – Interview

„Sie können nirgendwo zur Ruhe kommen“

Geflüchtete Kinder, die mit ihren Familien nach Deutschland kommen, leben häufig in Sammelunterkünften. Dort fehlt es ihnen an allem, was eine kindgerechte Umgebung ausmacht: Freiraum, Privatsphäre, Sicherheit. Die Erlebnisse auf der Flucht und die soziale Isolation hinterlassen Spuren. Besorgniserregend ist vor allem der erschwerte Zugang zu therapeutischer und sozialer Hilfe, sagt Simone Wasmer, Leiterin der Kinder- und Jugendabteilung im Zentrum ÜBERLEBEN.

Frau Wasmer, warum ist ein Aufenthalt in Sammelunterkünften für geflüchtete Kinder oft belastend, auch wenn sie dort zusammen mit ihren Familien untergebracht sind?

In der Regel leben in solchen Unterkünften sehr viele Menschen, ein Großteil stark belastet. Oft ist es eng, selten haben die Kinder einen Rückzugsraum oder Privatsphäre. Oft gibt es nicht mal einen Ort an dem in Ruhe Hausaufgaben erledigt werden können. Dazu gibt es wenig Freizeitangebote und die Sozialarbeiter*innen in den Heimen haben wenig Kapazitäten für die Belange der Kinder. Viele unserer jungen Patien*innen fühlen sich in diesem Wohnumfeld nicht wohl, manche haben Angst vor anderen Bewohnern. Die meisten haben noch nie einen Freund oder eine Freundin nach Hause eingeladen, weil sie sich für ihre Wohnsituation vor Gleichaltrigen schämen.

Welche Auswirkungen hat das?

Für die meisten Kinder ist die Wohnsituation ein sehr präsentes Thema. Der fehlende Rückzugsraum belastet die Kinder, selten können sie unbeschwert spielen, einfach Kind sein und zur Ruhe kommen. Die wenigsten der Kinder haben außerschulisch Kontakt zu anderen Gleichaltrigen. Klassenkamerad*innen einzuladen kommt den allermeisten nicht in den Sinn. Das verstärkt eine soziale Isolation. Dabei würde es am besten helfen, wenn auch traumatisierte geflüchtete Kinder Teil eines ganz normalen Alltags mit sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen und Freunden wären. Zusammen mit einem normalen Schulalltag sind dies die elementaren Bestandteile für einen Stabilisierungs- oder manchmal Heilungsprozess, auch ohne eine Traumatherapie. Leider birgt auch der Schulalltag Schwierigkeiten.

Was sind das für Schwierigkeiten?

Die Kinder gehen in Willkommensklassen, wo sie keinen Kontakt zu einheimischen Kindern haben. Meist gibt es dort noch mehr stark belastete Kinder. Lehrer*innen aus Willkommensklassen berichten uns immer wieder von der Schwierigkeit vor Klassen zu stehen, in denen mehr als die Hälfte der Kinder Hinweise auf Traumatisierungen oder andere emotionale Auffälligkeiten zeigt. Auf der einen Seite steht der Spracherwerb anfangs im Vordergrund, um hier gut anzukommen. Auf der anderen Seite führt die Beschulung in separaten Sprachklassen dazu, dass die Kinder wenig oder keinen Kontakt zu Kindern aus der Ankunftsgesellschaft haben.

Schwieriger Wohnraum, gesonderte Beschulung, gibt es noch weitere benachteiligende Umstände?

Der Zugang zu Hilfesystemen ist oft erschwert. Zunächst fallen traumatisierte Kinder in den oft großen Unterkünften und innerhalb belasteter Familiensysteme wenig auf. Ist jedoch Unterstützung durch Sozialarbeiter*innen, Ehrenamtliche oder eine Einrichtung wie der unseren vorhanden, zeigt sich leider immer wieder wie schwer es ist, die notwendigen Hilfen bewilligt zu bekommen. Das gilt beispielsweise für Psychotherapien im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe mit einem gesonderten pädagogischen Auftrag. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zu Therapien im Rahmen der Krankenhilfe.

Wie gehen Sie in der therapeutischen und sozialen Begleitung damit um?

Ein grundlegendes Gefühl von Sicherheit ist bei den Kindern und Jugendlichen oft nicht vorhanden. Sie haben wenig Rückzugsorte physischer und psychischer Natur, an denen sie Kraft und Ruhe finden können. Das Meiste in ihrem Leben ist extrem fragil, von Ängsten und Zweifeln geprägt. In diesem Rahmen ist eine Psychotherapie schwer durchzuführen und durchzuhalten. Zumal die Kinder und wir wissen: nach der aufreibenden Therapiesitzung müssen sie wieder in die ungeliebte Sammelunterkunft zurückkehren, in der sie einfach nicht zur Ruhe kommen.

Wer erkennt denn eigentlich die Bedarfe der Kinder, z. B. den Bedarf einer Psychotherapie?

Gerade im Bereich der Familienkinder in den Sammelunterkünften ist das ein sehr großes Problem. Sie gehen oft unter zwischen den ganzen Erwachsenen. Die wenigen Sozialarbeiter*innen sind mit der Vielzahl belasteter Menschen häufig überlastet. Sie melden sich eher vereinzelt bei uns. In den Willkommensklassen erleben die Lehrkräfte oft eine Überforderung mit der Anzahl der belasteten Kinder. Keine Lehrkraft ruft uns an, um 10 Kinder gleichzeitig anzumelden.

Trotzdem finden viele Kinder und Jugendliche mit Unterstützung von bemühten Sozialarbeiter*innen, Lehrkräften, ehrenamtlichen Helfer*innen, Familienhelfer*innen, Einrichtungen der Jugendhilfe oder einfach durch ihre sehr bemühten Eltern den Weg zu uns. Leider übersteigen die Anfragen oft die Kapazitäten die wir bieten können, wir bemühen uns dann aber immer um eine gute Beratung bezüglich alternativer Hilfen.

 

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Foto: Zentrum ÜBERLEBEN