Leid im Verborgenen

Sexualisierte Gewalt an Männern

29.08.2023

Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung – sexualisierte Gewalt schadet Betroffenen auf vielen Ebenen. Aber nicht nur Frauen und Mädchen, sondern auch Männer und Jungen können zu Betroffenen von sexualisierter Gewalt werden. Dieser Gruppe wird jedoch noch seltener eine Möglichkeit geboten, sich an jemanden zu wenden, um Hilfe zu erhalten. Doch wie hoch sind die Zahlen und welche spezifischen Folgen haben die Traumatisierungen unter Männern und Jungen? Die Wissenschaftliche Abteilung im Zentrum ÜBERLEBEN möchte hier Licht ins Dunkel bringen. Psychologe Max Vöhringer und Psychologin Freya Specht beantworten uns dabei einige Fragen zu ihren Untersuchungen.

Was genau ist der Schwerpunkt eurer Recherche im Themenbereich sexualisierte Gewalt an Männern?

Max Vöhringer: Im vergangenen Jahr haben wir begonnen, uns mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Männer im Kontext von Konflikten zu beschäftigen. Unter konfliktbezogener sexualisierter Gewalt werden gemäß einer Definition der Vereinten Nationen Gewaltakte wie Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Zwangsprostitution, Zwangsschwangerschaft, Zwangssterilisation und andere Formen von vergleichbarer Schwere verstanden, die direkt oder indirekt mit einem Konflikt zusammenhängen. Dass hiervon nicht nur Frauen und Mädchen, sondern auch Männer und Jungen betroffen sind, wurde lange Zeit von politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen weitgehend ignoriert. Auch in der Wissenschaft wurde dem Thema nur sehr wenig Aufmerksamkeit beigemessen.

Was ist zu dem Thema konfliktbezogene sexualisierte Gewalt gegen Männer und Jungen bisher bekannt?

Max Vöhringer: Das Phänomen an sich ist nicht neu, erste Berichte darüber reichen bis in die Antike zurück. Nahezu für jeden gewaltsamen Konflikt der jüngeren Geschichte gibt es dokumentierte Fälle. Das sind überwiegend Einzelfallberichte, Arbeiten zur Häufigkeit von konfliktbezogener sexualisierter Gewalt gegen Männer gibt es nur wenige. Schätzungen dazu werden dadurch erschwert, dass das Thema stark scham- und schuldbesetzt ist und Betroffene Stigmatisierungen und negative Konsequenzen auf gesellschaftlicher Ebene befürchten. Daher wird von hohen Dunkelziffern ausgegangen.

Wie genau erforscht ihr in der Wissenschaftlichen Abteilung dieses schwer zu fassende Thema? 

Max Vöhringer: Wir untersuchen die Daten von männlichen Teilnehmenden, die sich für eine arabischsprachige Online-Behandlung bei „Ilajnafsy[1] registriert haben und im Rahmen der Screening-Fragebögen von traumatischen Erfahrungen berichtet haben. Das waren zwischen Februar 2021 und März 2023 über 2.000 Männer. Von diesen haben beinahe ein Viertel (22%) von sexuellen Traumata berichtet – also von sexuelle Angriffen durch Fremde, Familienmitglieder oder Bekannte. Weitere knapp 6% haben solche sexuellen und konfliktbezogenen Traumata erlebt, zum Beispiel während eines Kampfeinsatzes oder Aufenthalts im Kriegsgebiet. Wir vergleichen diese Betroffenen mit der Gruppe von Männern, die weder sexuelle noch konfliktbezogene Traumatisierung, aber andere traumatische Erfahrungen, erlebt haben hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit und Verarbeitungsmechanismen.

Was sind die ersten Ergebnisse aus diesen Datenerhebungen?

Freya Specht: Die Daten zeigen, dass Männer, die sowohl sexuelle als auch konfliktbezogene Traumata erlebt haben, die stärkste psychische Belastung aufweisen. Wir finden sowohl eine stark ausgeprägte depressive Symptomatik als auch typische posttraumatische Belastungssymptome. Gleichzeitig zeigen die Daten aber auch, dass Männer, die zwar ein sexuelles, aber kein konfliktbezogenes Trauma erlebt haben, annähernd hoch belastet sind. Demzufolge können wir von einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen und einer starken Beeinträchtigung bei männlichen Überlebenden von sexualisierter Gewalt ausgehen.

Zudem wird deutlich: Überlebende von sexuellen Traumata sprechen am seltensten mit anderen Personen über die Erlebnisse. Männliche Überlebende, die beides – sexuelle und kriegsbedingte Traumata – erfahren mussten teilten sich demgegenüber zumindest noch etwas häufiger mit. Wobei es auch dieser Gruppe ziemlich schwerfällt, ihre Erfahrungen offenzulegen.

Welche Schlussfolgerungen zieht ihr aus diesen Resultaten?

Freya Specht: Unsere Studie belegt, dass sexuelle und konfliktbezogene Traumata häufig mit einer enormen psychischen Belastung unter betroffenen Männern einhergehen. In Zukunft müssen entsprechend auch für betroffene Männer mehr gezielte Versorgungsangebote geschaffen werden. Aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen sowie gesellschaftlicher Stigmatisierung fällt es Überlebenden besonders schwer, über die sexuellen Traumata zu sprechen. Sowohl in der Forschung als auch in der psychosozialen Versorgung ist eine spezifische und klare Ansprache der Thematik umso wichtiger, um mit diesem Tabu zu brechen. Diese Erkenntnisse können somit auch unsere Kolleg:innen aus den behandelnden Abteilungen im Zentrum ÜBERLEBEN in ihre tagtägliche Arbeit einfließen lassen.

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Quellen:

[1] Das Projekt „Ilajnafsy“ bietet seit 2008 die Möglichkeit, arabischsprachige Menschen weltweit mithilfe von evidenzbasierten, web-basierten Methoden zur Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen zu unterstützen. Die im Programm angebotenen Behandlungen stützen sich auf ein wissenschaftlich entwickeltes und evaluiertes Therapiekonzept (Interapy). Es beruht auf einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatz, dessen zentraler Bestandteil eine Schreibtherapie ist.

Hinweis: Der Schutz unserer Patient:innen ist uns wichtig, deswegen arbeiten wir mit anonymisierten Fotos und Symbolbildern.