KOALITIONSVERHANDLUNGEN ZUR AUSRICHTUNG DER ASYL- UND FLÜCHTLINGSPOLITIK
KÜNFTIGE BUNDESREGIERUNG UNTERGRÄBT DIE RECHTE BESONDERS SCHUTZBEDÜRFTIGER GEFLÜCHTETER
24.1.2018
Asylverfahren sollen mithilfe von Aufnahmezentren schneller abgewickelt werden
Die Sondierungsergebnisse, die nun die Grundlage für die anstehenden Koalitionsverhandlungen bilden, haben für besonders schutzbedürftige Geflüchtete in Deutschland und Europa katastrophale Folgen. Für sie sind in den entscheidenden Punkten der Aufnahme, nämlich in der Identifizierung, Bedarfsermittlung, Unterbringung und psychosozialen Versorgung keine Verbesserungen zu erwarten. Im Gegenteil: Das sogenannte Direktverfahren in ANkEr-Zentren, in denen „Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung und Rückführung“ stattfinden sollen, höhlt die Rechte Geflüchteter aus und führt zu einer erhöhten Re-Traumatisierungs- und Chronifizierungsrate.
Festgelegte Höchstzahl von Geflüchteten verstößt gegen Menschenrechtskonvention
Das ausgehandelte Sondierungspapier spricht von 180.000 bis 220.000 Menschen, die jährlich zuwandern dürften. Es gibt jedoch keine rechtliche Grundlage dafür, Bürgerkriegsflüchtlingen und Folterüberlebenden das Recht auf Asyl über diese Grenze hinaus abzusprechen. Diese Regelung würde gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie gegen das Recht auf Asyl im Grundgesetz verstoßen.
Erschwerter Familiennachzug
Der zuletzt viel diskutierte Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige, die den Großteil der Kriegsflüchtlinge ausmachen, bleibt ausgesetzt. Bis zum Sommer soll „aus humanitären Gründen“ ein Familiennachzug von höchstens 1.000 Menschen monatlich erlaubt werden. Im Gegenzug werden künftig jedoch andere Geflüchtete, die bislang freiwillig aus Griechenland und Italien aufgenommen wurden, nicht mehr berücksichtigt. Hier werden die Interessen verschiedener Flüchtlingsgruppen gegeneinander ausgespielt. Während viel zu wenige Schutzbedürftige in Deutschland endlich ihre Familienmitglieder aus den Bürgerkriegsgebieten nachholen können, müssen andere ebenso schutzbedürftige Männer, Frauen und Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern an den europäischen Außengrenzen ausharren– ohne den Zugang zu ausreichender medizinischer, psychologischer und sozialer Unterstützung.
Aufnahmezentren missachten die Rechte Geflüchteter
Das Sondierungspapier sieht die flächendeckende Einrichtung sogenannter ANkER-Einrichtungen vor. In Berlin gibt es bereits seit September 2016 ein Ankunftszentrum, in dem die Bundesbehörde BAMF mit den relevanten Landesbehörden zusammenarbeitet. Es zeigt sich, dass hierdurch die Dauer des Asylverfahrens stark reduziert werden konnte, allerdings auf Kosten der Rechte der Geflüchteten. Für eine unabhängige rechtliche oder psychologische Beratung fehlt bislang sowohl die Zeit als auch der Zugang zu diesen Zentren. Obwohl es laut geltendem EU-Recht die Pflicht der Behörden ist, aktiv zu prüfen, ob Geflüchtete besondere Bedürfnisse haben sowie die Unterbringung, die (gesundheitliche) Versorgung als auch das Asylverfahren entsprechend der individuellen Situation der Betroffenen anzupassen. Trotz der eindeutigen rechtlichen Verpflichtungen kann in diesen Zentren keine adäquate Beurteilung besonderer Bedürfnisse sichergestellt werden.
Bisher wird das BAMF vor allem durch externe Akteure, wie zivilgesellschaftliche Organisationen oder Rechtsanwälte, auf die besonderen Bedürfnisse Geflüchteter aufmerksam gemacht. Die Gefahr ist groß, dass die Rechte, die die EU-Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU und die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU den Geflüchteten ausdrücklich zusprechen, zukünftig weiter ausgehöhlt werden.
Zugang zu ausreichender medizinischer und sozialer Versorgung fraglich
Schließlich bleibt in den getroffenen Vereinbarungen der Sondierungsparteien völlig offen, wie der Zugang zu medizinischer und psychosozialer Versorgung in den Aufnahme- bzw. Ankunftszentren gewährleistet werden soll. Der vage Hinweis auf geplante „spezielle Rechtsberatung für besonders vulnerable Fluchtgruppen“ greift ohne sichergestellte Identifizierung der Betroffenen zu kurz. Außerdem haben grundsätzlich alle Geflüchtete das Recht auf eine unabhängige rechtliche Beratung. Völlig unerwähnt bleibt zudem das Anrecht der Betroffenen auf eine adäquate psychosoziale Versorgung, gemäß der EU-Richtlinie.
Folgen: Drohende Chronifizierung und erschwerte Integration
Der eingeschlagene Weg, der allein auf kurze Asylverfahrensdauern und die begrenzte Aufnahme von Geflüchteten ausgerichtet ist, wird die psychische und physische Belastung für die aufgenommenen Geflüchteten deutlich erhöhen, was schließlich auch zu einer stärkeren Belastung der Sozial- und Gesundheitssysteme führen wird. Der ausgesetzte bzw. erschwerte Familiennachzug, prekäre Unterbringungssituationen in den Aufnahmezentren und nicht berücksichtigte individuelle Bedarfe verschlechtern den Zustand traumatisierter und anderer besonders schutzbedürftiger Geflüchteter, zusätzlich zu den Erlebnissen in der Heimat und auf der Flucht. Bei vielen Patient*innen im Zentrum ÜBERLEBEN führen die Missstände zu chronifizierten Krankheitsverläufen, langwierigen Behandlungen und einer zusätzlich erschwerten sozialen und gesellschaftlichen Integration.
Forderungen
Für die Ausrichtung der künftigen Asyl- und Flüchtlingspolitik in den Koalitionsverhandlungen fordert das Zentrum ÜBERLEBEN grundsätzlich
- ein Ende der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär geschützte Geflüchtete.
- die Gewährleistung der unabhängigen rechtlichen Beratung für alle Antragstellenden.
- die Ermöglichung einer qualifizierten Identifizierung Geflüchteter mit besonderen Bedarfen bei der Aufnahme sowie eine individuelle Beurteilung dieser Bedarfe gemäß der europäischen Aufnahmerichtlinie.
- die verbindliche Berücksichtigung und Gewährleistung von besonderen Verfahrensgarantien u. a. für traumatisierte Geflüchtete im Sinne der europäischen Verfahrensrichtlinie.
- eine garantierte, unabhängige und bedarfsgerechte Behandlung bzw. psychosoziale Beratung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter außerhalb der Ankunftszentren.
- eine rechtssichere Durchführung von Asylverfahren, unabhängig von willkürlich festgelegten Maximalzahlen für die Aufnahme von Geflüchteten.
KONTAKT
Tinja Schöning
Tel.: 030 30 39 06 -62
E-Mail: t.schoening@ueberleben.org