Zehn Jahre Krieg im Kopf

Ein interview mit Psychotherapeutin Maria Prochazkova

15.3.2021

Heute, am 15.3.2021, auf den Tag genau herrscht seit zehn Jahren Krieg in Syrien– und der Krieg ist nicht vorbei. Lokale Gefechte, zivile Opfer, Verfolgung, Folter, Verschwindenlassen, Straffreiheit für Täter – das ist Alltag im Assad-Regime. Psychologische Psychotherapeutin Maria Prochazkova gewinnt durch ihre Arbeit Einblicke, wie Krieg und Schrecken der Diktatur in den Köpfen und Seelen ihrer Patient*innen aus Syrien weiterwirken. Ihr Alltag, der „Integrationsprozess“ und auch die Therapie sind durch die Situation der Angehörigen sowie durch Nachrichten und Bilder via Social Media stark beeinträchtigt.

Familien sind seit Jahren durch den zehnjährigen Krieg auseinandergerissen. Geflüchtete leben in Deutschland, sind mitunter schwer traumatisiert und bei Euch in Behandlung. Was kannst Du uns über den Kontakt innerhalb der getrennten Familien berichten? Wie wirkt sich die Situation auf die Psyche Eurer Patient*innen aus?

Der Kontakt mit Angehörigen ist eine sehr wichtige Ressource – für alle Menschen und so auch für unsere Patient*innen. Es ist ganz wichtig, dass sie im Austausch mit Müttern, Vätern, Geschwistern, Freundinnen und Freunden stehen. Doch dieser Austausch ist auch ein zweischneidiges Schwert und hat viele Aspekte, die es zu betrachten gilt.

Durch den fortwährenden Kontakt, bekommen unsere Patient*innen immer wieder mit, wenn neue gewalttätige Ereignisse im Heimatland stattfinden, ähnlich denen, die sie selbst erlebt haben und welche sie zur Flucht veranlassten. Sie spüren, dass sich die Angehörigen noch in Gefahr befinden und sich manchmal diese Gefahr durch ihre eigene Flucht sogar verschärft hat, weil ihre Familien nun erst recht kontrolliert und beobachtet werden.

Der Kontakt zu nahestehenden Angehörigen kann außerdem in Folge von Strom- und Internetausfällen nicht auf die Art und Weise aufrechterhalten werden, wie wir das kennen. Das heißt, dass Familien auch zwischendurch lange nichts voneinander hören. Das vergrößert die innere Anspannung der Patient*innen extrem.

Und dann beeinträchtigt die sogenannte „Überlebensschuld“ häufig den Kontakt und Austausch mit den Daheimgebliebenen. Ein Gefühl von Schuld stellt sich ein, weil die Geflüchteten in Deutschland den Krieg, die Verfolgung und oder Verhaftungen in Syrien, anders als ihre Freund*innen, Angehörige oder Bekannte überlebt haben und z.T. bessere Lebensbedingungen und Sicherheit haben. Daher entsteht eine gewisse Hemmung, über die eigenen Schwierigkeiten hierzulande zu sprechen. Das, was also primär eine Ressource ist, stellt gleichzeitig auch eine Belastung dar.

Wie informieren sich Deine Patient*innen darüber, was in Syrien vorgeht?

Social Media spielt eine sehr große Rolle. Man möchte natürlich informiert sein und hat einen Drang zu erfahren, was im Herkunftsland los ist. Und auf diese Weise bleibt man gleichzeitig in Kontakt – beides geht ineinander über.

Dabei beobachte ich als Psychotherapeutin im Zuge der Digitalisierung auch einen dysfunktionalen Umgang mit Social Media, also einen suchtähnlichen Konsum, so dass auch eine nicht-stoffgebundene Abhängigkeit geprüft werden muss. Beispielsweise scrollen Betroffene pausenlos an ihrem Handy herunter und erleben durch krasse Nachrichten und Bilder regelrecht eine Belohnung durch die entsprechende Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn.

Was können Betroffene diesem suchtartigen Verhalten entgegensetzen?

Ein Umgang mit diesem suchtartigen Verhalten ist die sog. Stimulus-Kontrolle, indem man sich den Zugang zu diesen Nachrichten erschwert und sich abgrenzt. Das steht allerdings im Widerspruch zu dem Bedürfnis, in Kontakt mit den Angehörigen zu bleiben, was beispielsweise in der Pandemie besonders wichtig ist. Dabei ist es sehr schwierig zu kontrollieren, welche Nachrichten gut sind und welche Nachrichten dem Konsumierenden Schaden zufügen oder gar traumatisch Verarbeitetes reaktivieren. Die nicht-stoffgebundene Sucht ist aber nur ein Teilaspekt, etwas, das heutzutage eine Rolle spielt.

Welche weiteren Auslöser gibt es für diesen auffällig intensiven Nachrichtenkonsum?

Ich habe gleichzeitig den Eindruck, dass Patient*innen sich verbieten, ein gutes Lebensgefühl zu entwickeln, wenn gleichzeitig ihre Angehörigen in Syrien so sehr leiden. Das machen sie, indem sie sich andauernd dem Konsum von Informationen und Bildern aussetzen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Für so ein, aus therapeutischer Sicht „dysfunktionales“ Verhalten können wiederum Gefühle von Überlebensschuld ursächlich sein.

Was sind das für Bilder, die die Grenzen der Vorstellungskraft sprengen, wie Du sagst?

In syrischen Nachrichtenportalen, aber nicht nur dort, schreckt man nicht davor zurück, Leichen und sehr explizit ausgewählte, mitunter brutale Bilder zu zeigen. Mit solchen Bildern werden die Leute auch innerhalb von Whatsapp konfrontiert. Wenn man es beispielsweise geschafft hat, Facebook und Instagram stillzulegen und nur noch via Whatsapp kommunizieren möchte, dann bekommt man Videos und anderes über sogenannte Statusanzeigen geschickt und ist, ob man will oder nicht, damit konfrontiert und immer informiert. Das macht eine Abgrenzung so schwierig.

Welche Nachrichten sind für Eure Patient*innen noch zu verarbeiten und welche können Traumata reaktivieren?

Es lässt sich gar nicht sagen, welche Nachrichten dazu führen, dass man vermehrt Albträume hat oder unter anderen Symptomen des Wiedererlebens eines Traumas leidet. Das, was an die traumatischen Erlebnisse erinnert, die sogenannten Trigger, sind hochgradig individuell und spielen sich auf verschiedenen Sinnesebenen ab.
Es kann sein, dass ein Video an ein persönliches Trauma erinnert oder an etwas, das damit in Zusammenhang steht. Aber auch eine komplett neue Nachricht, mit völlig unbekannten Informationen, kann dazu führen, dass Syrer*innen, die ja alle durch ihre Kriegstraumatisierung eine höhere Vulnerabilität haben, Symptome entwickeln.

Es gibt also einmal die Reaktivierung einer Traumatisierung sowie die erhöhte psychische Vulnerabilität der geflüchteten Menschen allgemein.

Du hast Stromausfälle und Internetprobleme erwähnt – was können sie für die Patient*innen bedeuten?

Ein Stromausfall sorgt dafür, dass das Leben des Menschen hier wie stehenzubleiben scheint bis man die Gewissheit darüber hat, wie es den Angehörigen im Herkunftsland geht: ob es wirklich nur ein Stromausfall war oder ein Anschlag oder ob die Angehörigen verschwunden sind.

Diese Ungewissheit ist etwas, das verständlicherweise zum Grübeln veranlasst. Man macht sich Gedanken und Sorgen. Das ist für unsere Patient*innen ohnehin ein Thema, weil sie mit Ungewissheit auf vielen Ebenen konfrontiert sind. Es gibt viele Menschen, von denen sie seit Jahren nicht wissen, wo sie sind. Diese Gesamtsituation trägt dazu bei, dass man eine enorme Grundanspannung hat und durch Kleinigkeiten ständig an die ungewisse Frage erinnert wird, was wohl gerade passiert. Die Patient*innen versuchen das im Kopf zu lösen, was allerdings zur Entwicklung weiterer Beschwerden führen kann.

Wie wirken sich diese Ungewissheiten auf die Fähigkeit aus, den Alltag zu bewältigen?

Unter solchen Anspannungszuständen fällt es den Betroffenen natürlich unglaublich schwer, alles wie gehabt zu regeln, zum Sprachkurs zu gehen oder die Kinder adäquat zu versorgen. An die ständige innere Frage, was mit den Angehörigen in Syrien gerade los ist, kann man sich teilweise gewöhnen. Allerdings befinden sich unsere Patient*innen damit in einer derart unberechenbaren und belasteten Situation, dass es absolut verständlich ist, wenn sie dann nicht so gut in ihrem „Integrationsprozess“ vorankommen wie sich das manch ein Politiker oder eine Politikerin vorstellt. Für die Therapie kann das natürlich auch eine Stagnation bedeuten, denn es geht erstmal darum, einen bestimmten Umgang mit dieser Ungewissheit oder auch mit dem Nachrichtenkonsum zu entwickeln.

Um was geht es in der Therapie noch, um mit diesen Belastungen zurecht zu kommen?

In der Therapie sind wir bemüht, die Gefühle von Überlebensschuld zu thematisieren und mit den Patient*innen nach Möglichkeiten zu suchen, um sich ein Stück weit besser zu fühlen und das eigene Verhalten zu verändern. Dieser Ansatz kollidiert natürlich mit ihrer Grundfrage: „Wie kann es mir gut gehen, wenn meine Angehörigen so leiden?“ Ihre Gefühle von Überlebensschuld können dabei nicht immer aufgearbeitet werden, so dass sie sich davon befreit fühlen. Doch manchmal hilft alleine schon die Einsicht, dass über diesen Mechanismus bestimmte Beschwerden und Symptome aufrechterhalten werden.

Welche Relevanz hat die Situation in Syrien vor Ort für die Patient*innen, nach zehn Jahren Krieg. Gibt es auch Brüche – Kontakt-Abbrüche?

Das ist ganz verschieden. Es gibt Menschen, die sich entschieden haben, den Kontakt abzubrechen, um die Angehörigen nicht zu gefährden. Das ist ein Verzicht, der sehr schmerzhaft für sie ist. Folglich bekommen sie dann auch weniger von den Nachrichten mit. Gleichzeitig wissen alle, dass es politisch relevant ist, dass Syrien nicht vergessen wird.

Und was machen die Menschen, damit Syrien nicht vergessen wird?

Es gibt hierzulande sehr aktive Menschen, die Informationen aktiv nach außen geben und sich engagieren. Das hängt natürlich auch davon ab, wie sie in die syrische Opposition involviert waren und warum sie geflohen sind. Gegen das Vergessen anzugehen, ist auch die Absicht von denjenigen, die eine besonders brutale Berichterstattung aus Syrien aufrechterhalten – und auch von denjenigen, die diese brutalen Bilder und Informationen hier ständig konsumieren, nutzen und auch weiterverbreiten.

Und wie wirkt sich das dann auf ihren „Integrationsprozess“ aus?

Der Kontakt mit den Angehörigen, die Nachrichtenlage aus dem Herkunftsland… bei Menschen mit Migrationshintergrund spielt das immer eine Rolle. In welchem Ausmaß ist ganz individuell und das muss auch nicht pathologisiert werden. Denn diese Menschen setzen sich zwangsläufig damit auseinander, wieviel die eigene Identität mit ihrer Herkunft zu tun hat. Es stellen sich dabei immer die gleichen Fragen: was davon möchte ich behalten versus was ist das Neue und darf ich das annehmen, ohne dass es sich wie ein Verrat anfühlt. Also diese inneren Konflikte sind etwas Normales und sind Bestandteile für „Integrationsprozesse“ jedweder Form.

 

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