Das Geschehene lässt uns nicht in Frieden
9.4.2020
Es ist eine berührende Ausstellung mit Werken, die unterschiedlicher nicht sein können. Sie lassen Geschichten und Leidenserfahrungen erahnen, die das Leben der Patient*innen der Erwachsenen-Ambulanz prägen. Diese haben die Möglichkeit, einmal wöchentlich in der Kreativ-Gruppe mit verschiedenen Materialien zu arbeiten – begleitet durch eine Kunsttherapeutin und eine Sozialarbeiterin. Eindrücke von Eva Wagner, Mitarbeiterin Zentrum ÜBERLEBEN.
Auf einer feinen Bleistiftzeichnung schwebt der riesige Kopf einer jungen Frau im Himmel über einer bergigen Landschaft und vielen Menschen, die augenscheinlich in Bewegung sind und fliehen. Ich ahne, dass das wohl das Sinjar Gebirge sein soll. Der ältere Mann, auf dessen Gesicht das Leben tiefe Spuren hinterlassen hat, erzählt mit leisen Worten, ein Dolmetscher übersetzt aus dem Jesidischen. „Das ist Nadla Murat. Sie steht für alle Frauen und Mädchen des jesidischen Volkes, die von den IS-Männern vergewaltigt und versklavt worden sind. Für mich ist sie eine Brücke, damit nach draußen kommt, was uns Schreckliches widerfahren ist.“ Dem älteren Mann fällt es nicht schwer zu sprechen, aber sein tiefer Schmerz wird spürbar. Nadla Murad, seit 2018 Friedensnobelpreisträgerin, machte öffentlich, was sie und viele anderen jesidischen Frauen und Mädchen in IS-Gefangenschaft erleiden mussten. Ich bemerke, wie sehr unser Gespräch auch eine andere jesidische Patientin berührt. Sie selbst hat auf ihren Bildern Symbole der jesidischen Kultur dargestellt: gegen das Vergessen und für die Vermittlung hierzulande. Der alte Mann fährt fort: „Ich muss immer wieder daran denken, was geschehen ist, ich habe es die ganze Zeit im Kopf. In der Unterkunft, wo ich lebe, sind aber immer viele Menschen, auch im Zimmer. Dort kann ich nicht malen“, berichtet er. „Darum komme ich hierher in die Gruppe. Ich konzentriere mich. Nun ich kann dem einen Ausdruck geben, das ist für mich wichtig. Und es freut mich, wenn andere Menschen das sehen.“
„Trauma-Patient*innen hat es die Füße weggehauen“
Durch das Gespräch verstehe ich besser, was die neue Ausstellung mit 65 Bildern, vier Handarbeits-Exponaten und 18 figürlichen Arbeiten aus Holz im Flur der Ambulanz zeigt. Hier in diesem Flur sitzen tagtäglich diejenigen, die zur Therapie kommen, in der sie schmerzvolle Traumata zu bewältigen versuchen. Oder sie warten auf einen Termin mit einer der Sozialarbeiter*innen, die sie mit ihren Problemen rund um Aufenthaltstitel, Wohnungssuche, Arbeitssuche, Behördenanträge und Asylverfahren unterstützen.
In einem der Zimmer an diesem Flur hat auch Sozialarbeiterin Conny Bruckner ihr Büro. Die langjährige ZÜ-Mitarbeiterin macht alles Organisatorische rund um die Kreativgruppe für die Patient*innen der Erwachsenen-Ambulanz. Sie ist begeistert über die Exponate und weiß viel über die Menschen, die sich unter der Anleitung von Kathrin Rieke-Goetz „auf den Weg machen“, wie die Kunsttherapeutin den Prozess in ihrer Gruppe beschreibt: „Den Trauma-Patient*innen hat es die Füße weggehauen: sie wissen nicht mehr, wie was funktioniert und was sie eigentlich können.“ Kathrin Rieke-Goetz beobachte, wie sich die Menschen langsam wieder an ihre Kompetenzen erinnern, sie wiederentdecken. „In der Kunsttherapie geht es darum, sich neu wahrzunehmen und langsam zu lernen, sich selbst wieder zu steuern. Das geschieht auch über das Material, das sich die Patient*innen wählen können. Sie müssen mit Bleistift ganz anders vorgehen als wenn sie mit Acryl eine Leinwand bemalen oder mit Holz gegenständlich arbeiten.“
Eine Sammlung der bitteren Erfahrungen
Ich merke Conny Bruckner und Kathrin Rieke-Götz an, wie sehr es sie erfüllt, wenn die Menschen in der Kreativgruppe ihre Ressourcen entdecken und sich Schritt für Schritt wieder strukturieren. Das drückt sich auch in den Worten der Patient*innen bei der Ausstellungseröffnung aus, in denen Schmerz, aber auch Willensstärke und Verbundenheit spürbar wird. „Jeder von uns schleppt die Vergangenheit mit sich herum. Das hier ist eine Sammlung der bitteren Erfahrungen von damals, von Iranern, Jesiden und Syrern, aus Ländern, in denen Katastrophales passiert. Das Geschehene lässt uns nicht in Frieden. In der Kreativgruppe gelingt es uns, Momente der Ruhe zu finden, uns darauf zu besinnen, was passiert ist“, sagt die Iranerin Dina M., eine Frau Mitte 50, die vor zwei Jahren aus dem Iran nach Deutschland geflohen ist. „Uns ist uns eine Tür geöffnet worden und wir erleben offene Arme, die uns mit unseren Verletzungen, mit unseren Herzverletzungen annehmen.“
Holzfiguren: Die Mütter der verlorenen Kinder
Die Figuren aus Holz, die Dina M. geschaffen hat und im Glaskasten stehen, ziehen mich in den Bann. Jede einzelne Figur stellt das Schicksal einer iranischen Frau dar, die Mitglied einer Gruppe von Müttern ist. Alle diese Frauen haben Kinder, die inhaftiert oder verschwunden oder exekutiert worden sind. Die Mütter sind auf die Straße gegangen und dabei viel riskiert. Es sind viele Figuren, die Dina M. geschnitzt hat. Sie selbst erfuhr dasselbe Leid und war Teil dieser Gruppe von protestierenden Müttern, bis sie fliehen musste. Sie spricht öffentlich über ihre Geschichte, über die Hinrichtung ihres Sohnes, die Bedrohungen gegenüber ihrer Familie. Sie versucht weiterhin, die Proteste der Mütter im Iran zu unterstützen. „Wenn Dina M. mit Holz arbeitet, dann ist sie völlig abgetaucht. Sie arbeitet und arbeitet, es ist eine unglaubliche Energie. Sie geht dabei auch über ihre Grenzen“, sagt Conny Bruckner. Die Kunsttherapeutin erklärt: „Wenn durch Kunst oder Musik die inneren Bilder über das Geschehene ausgedrückt werden, dann ist das gut für einen Heilungsprozess. Allerdings fördere ich das nicht, sondern lasse es zu “, sagt Kathrin Rieke-Goetz „Es ist also ein sehr sensibler Prozess, über das Dargestellte und Erlebte in der Gruppe zu sprechen. Ich muss dabei steuernd eingreifen, um auch andere Patient*innen zu schützen.“
Fast jedes Mal, wenn ich an dem Glaskasten vorbeigehe, fällt mein Blick auf die kleinen Holzfiguren mit rotem Herz. Für mich symbolisieren die Herzen die Liebe der Mütter, ihre Geschichte, ihre schmerzvollen Verluste. Sie stehen auch für die Menschenrechtsverletzung, die ihre Familienmitglieder und sie selbst erleiden mussten. Es ist gleichzeitig ein politisches Statement, das im Zentrum ÜBERLEBEN tagtäglich sichtbar wird und nach Gerechtigkeit schreit. Das Geschehene lässt die Menschen, die zu uns kommen, nicht in Frieden.
>Die Geschichte von Dina und ihren Kunstwerken
>Mehr Informationen über Kreativ-, Musik- und Bewegungstherapien im ZÜ
Fotos: Zentrum ÜBERLEBEN