Ein Jahr Prozess in Koblenz: Aufarbeitung der Folter

Zeugenaussagen gegen Ohnmacht und Unrecht

Berlin, 22. April 2021

Morgen jährt sich der Start des weltweit ersten Verfahrens gegen syrische Regime-Mitglieder. Die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit findet vor dem Oberlandesgericht in Koblenz statt. Die Zeug*innen spielen eine maßgebliche Rolle im Prozess und machen mit ihren Aussagen die Dimensionen der begangenen Folter öffentlich.  Zeug*innen sind häufig selbst Folter-Überlebende und werden bei Bedarf von der Menschenrechtsorganisation ECCHR ans Zentrum ÜBERLEBEN (ZÜ) vermittelt. Mit der Organisation, die Zeug*innen juristisch begleitet, hat das ZÜ seit Jahren eine Kooperation.

„Eine Zeugenaussage ist die Möglichkeit, aus dem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit herauszukommen, etwas zu tun und sein Recht einzuklagen. Das ist ein schwerer Schritt, aber er ist sinnstiftend und dadurch wird das erlebte Unrecht besser ertragbar“, sagt Dr. Sabrina Schmelzle, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom Zentrum ÜBERLEBEN. „Die Zeug*innen stehen vor der Herausforderung, sich aktiv an das vergangene Unrecht zu erinnern und vielleicht auch eine Flut von Erinnerungen, die damit ausgelöst wird, auszuhalten. Durch unsere Kooperation mit dem ECCHR wollen wir für die Symptomatik sensibilisieren und möglichen Re-Traumatisierungen während des Aussage- und Gerichtsprozesses vorbeugen.“

Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat durch Zeugeninterviews und Strafanzeigen gegen hochrangige syrische Regime-Mitglieder die Anklage vor dem Oberlandesgericht in Koblenz mit ermöglicht. Im Rahmen der Kooperation unterstützen Psychotherapeut*innen des Zentrum ÜBERLEBEN die ECCHR-Mitarbeiter*innen durch Supervision und Fortbildung. Dabei wird über traumareaktive Symptome aufgeklärt, um so frühzeitig einen psycho-sozialen Beratungs- und Behandlungsbedarf bei Zeug*innen zu erkennen. (vgl. „Gegen Ohnmacht und Unrecht“) Im Zuge dessen verweist das ECCHR regelmäßig Zeug*innen an das ZÜ. Und die Jurist*innen des ECCHR werden über ihre eigene Gefährdung informiert, das heißt über sekundäre Traumatisierung, Überidentifikation und Burn-out.

„Viele syrische Geflüchtete müssen den Eindruck haben, dass Syrien der Weltgemeinschaft inzwischen egal ist und es niemanden mehr zu interessieren scheint, was ihnen passiert ist. Die juristische Aufarbeitung, die in Koblenz vor einem Jahr begonnen hat, ist für Folter-Überlebende und auch für unsere Patient*innen sehr wichtig. Die Menschen werden nicht mit dem, was ihnen passiert ist, alleine gelassen. Die Geschehnisse werden nun von einem Gericht anerkannt“, so Schmelzle. „Gerechtigkeit ist – auch in Therapien – ein großes Thema. Wenn das erlebte Unrecht durch Recht wiederaufgewogen wird, ist das förderlich für den Heilungsprozess. Wichtig finde ich dabei, dass bei den Zeugenaussagen nicht über die Grenzen der Betroffenen gegangen wird und psychische Stabilität ein wichtiges Gut bleibt.“

Unter diesem Link finden Sie das vollständige Interview mit Dr. Sabrina Schmelzle, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

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