Stellungnahme

40 Jahre nach dem Massaker von Kerala

Trauma, Terror, Krieg – und kein Ende

Warum es unmenschlich ist, Geflüchtete aus Afghanistan in ihre Heimat abzuschieben

Berlin, 18. April 2019

Seit vierzig Jahren tobt ein Bürgerkrieg in Afghanistan, der Generationen zerstört und die Gesellschaft tief traumatisiert hat. Zwischen den Fronten von Talibankämpfern, Kämpfern des sogenannten Islamischen Staats, Regierungstruppen und Warlords werden Zivilist*innen vertrieben, misshandelt und getötet. Jährlich werden über 10.000 von ihnen Opfer von Anschlägen und Auseinandersetzungen. Durch Zwangsrekrutierungen, Bespitzelungen und die lebensnotwendige Verbündung mit der lokal vorherrschenden Kriegspartei, um zum Beispiel Handel treiben zu können, ist es auch für ganz normale Familien unmöglich, nicht in den Konflikt involviert zu werden. Ein gewaltfreies, sicheres Leben ist in Afghanistan seit 40 Jahren undenkbar.

Geringe Schutzquote trotz fehlender Sicherheit im Land

Leider sehen das die deutschen Sicherheitsbehörden anders. 2018 lag die Schutzquote für afghanische Asylantragssteller*innen bei nur 36,3 Prozent. Sowohl das BAMF als auch das Auswärtige Amt gehen davon aus, dass es „sichere“ Gebiete in Afghanistan gibt. Nicht berücksichtigt wird jedoch, dass im ganzen Land Spitzel der Taliban aktiv sind, die Informationen über Wiedereingereiste an die örtlichen Machthaber weitergeben. Sie werden als Verräter*innen verfolgt, aufgespürt, gefoltert und häufig getötet. Auch, wenn es keine Anschläge und Auseinandersetzungen in einigen Regionen gibt, kann niemand sicher in Afghanistan leben. Erst recht nicht jene, die als Geflüchtete stigmatisiert und verfolgt werden.

Die Vorgaben des BAMF für ein sicheres Herkunftsland – für ein „teilweise sicheres Herkunftsland“ gibt es keinerlei offizielle Vorgaben – besagen, dass dort keine staatliche Verfolgung zu befürchten ist und der Staat in der Lage sein muss, die Menschen vor Gewalt und nichtstaatlicher Verfolgung zu schützen. In unserer täglichen Arbeit sehen und hören wir, dass das in Afghanistan bei Weitem nicht der Fall ist. Dort wird gefoltert, Menschen werden aus politischen und religiösen Gründen verfolgt und das staatliche Gewaltmonopol gilt längst nicht überall. Die Menschen sind der Gewalt der lokalen Milizen schutzlos ausgeliefert. Junge Männer werden schon als Kinder rekrutiert, Mütter und Mädchen vergewaltigt und versklavt, Väter verschleppt.

Die Menschen leiden unter den traumatischen Kriegs- und Gewalterlebnissen

Im Zentrum ÜBERLEBEN kennen wir diese schrecklichen Geschichten, denn seit jeher machen Afghan*innen einen großen Anteil unserer Patient*innen aus. Neben Menschen aus Syrien bilden sie die größte Herkunftsgruppe. Jährlich werden im Zentrum über 100 afghanische Frauen, Männer und Kinder psychosozial versorgt und begleitet. Zudem nehmen viele Afghan*innen an den qualifizierenden Angeboten teil.

Es sind zumeist junge männliche Afghanen, die Schutz suchen. Die häufigsten Fluchtgründe liegen in drohenden Zwangsrekrutierungen durch die Taliban sowie massiven Gewalterfahrungen im Bürgerkrieg oder in Foltergefängnissen. Meist fliehen sie als Minderjährige im Alter von 13 bis 16 Jahren. Sie entziehen sich so den Zwangsrekrutierungen, gehen aber auch als Hoffnungsträger der Familien. Die Verantwortungs- und Schuldgefühle gegenüber den Familienmitgliedern in der Heimat lassen die jungen Männer nicht los und entwickeln einen immensen Druck auf die ohnehin stark belasteten Menschen. Viele junge Afghanen versuchen traumatische Erlebnisse und erdrückende Schuldgefühle gegenüber der Familie durch Drogenkonsum erträglicher zu machen und entwickeln so ein Suchtproblem. Schwere depressive Zustände treten häufig in Kombination mit größter innerer Anspannung auf, die nicht selten in Selbstverletzungen mündet.

Traumareaktive Symptome wie Schlafstörungen, Flashbacks und Albträume werden durch die schlechten Bedingungen in den Sammelunterkünften, mangelnder Privatsphäre, Ausgrenzung und schlechter Bleibeperspektive zusätzlich unterstützt. Traumatisierte Geflüchtete, die von Folter und Krieg gezeichnet sind, leiden extrem darunter, dass ihre traumatischen Erfahrungen, ihre körperlichen und psychischen Leiden hier nicht anerkannt werden.

Vor dem Hintergrund des seit 40 Jahren andauernden Bürgerkriegs in Afghanistan, der Terrorherrschaft von Taliban und IS sowie politischen und religiösen Verfolgungen sind die Deklarierung einiger Landesgebiete als „sicher“ und die damit verbundene geringe Schutzquote nicht hinnehmbar. Die momentane Praxis gefährdet die Gesundheit besonders schutzbedürftiger Geflüchteter, deren Bedarfe im Zuge fehlerhafter Verfahren und nicht berücksichtigter psychotherapeutischer Stellungnahmen nicht anerkannt werden.

Das Zentrum ÜBERLEBEN fordert:

  • die qualifizierte und genaue Einzelfallbetrachtung der Asylanträge, unabhängig vom Herkunftsland sowie die Berücksichtigung psychotherapeutischer Stellungnahmen.
  • die Anerkennung des Leids traumatisierter Geflüchteter durch einen geregelten und raschen Zugang zu psychosozialer und gesundheitlicher Versorgung sowie zu integrativer Unterstützung, um den Menschen eine lebenswerte Perspektive aufzuzeigen.
  • eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan, die das fragile staatliche Gewaltmonopol sowie den Einsatz von Spitzeln überall im Land und die direkte Bedrohung von Leib und Leben der Wiedereingereisten Afghan*innen angemessen berücksichtigt.

 

Kontakt

Tinja Kristein
Tel.: 030 30 39 06 -62
E-mail: t.kirstein@ueberleben.org

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Foto: Huib Scholten/unsplash