Gerechtigkeit für gefolterte Menschen – Zwischen Erleichterung und Ohnmacht

7.2.2022

Das neue Jahr begann gleich mit einem juristischen Meilenstein. Im weltweit ersten Prozess gegen syrische Staatsfolter wurde der Hauptangeklagte Anwar R. vom Koblenzer Oberlandesgericht schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und 27-fachen Mordes verurteilt. 

Das European Center for Consitutional and Human Rights (ECCHR) kooperierte im Rahmen dieses Prozesses seit 2018 mit dem ZÜ und unterstützte 29 Zeug:innen, die grausamste Gewalt und Folter in Syrien überlebt haben. Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen des Zentrum ÜBERLEBEN berieten Mitarbeitende des ECCHR, führten Fortbildungen und Supervisionen durch. Einige im Prozess vernommene Zeug:innen wurden ebenfalls durch das ZÜ beraten und psychotherapeutisch betreut. Für viele Überlebende war es schwer, ihre Angst zu überwinden und gegen das Regime auszusagen. Anwar R. war einst Oberst im syrischen Al-Khatib Gefängnis und bekleidete eine einflussreiche Position im Geheimdienst des Assad Regimes, das seit mehr als zehn Jahren einen blutigen Krieg gegen große Teile der eigenen Bevölkerung führt. Juristisch betrachtet konnte der Prozess im Januar also erfolgreich zu Ende gebracht werden. Doch was bedeutet das Urteil für die Zeug:innen und zahllose weitere Überlebende, die ihr Leben lang unter den traumatischen Erlebnissen leiden müssen? Dazu haben wir mit Oliver Göbel, Sozialarbeiter im ZÜ, gesprochen. 

Lieber Oliver, das Urteil sowie der Prozess selbst erfuhren große Aufmerksamkeit und ein weltweites Medienecho. Was bedeutet das den Menschen, die im Prozess ausgesagt haben? Welche Gefühle spielen bei den Überlebenden vor, während und nach dem Prozess eine Rolle?

Das ist von Einzelfall zu Einzelfall sicherlich unterschiedlich. Um das an Beispielen, die wir aus unserer Praxis kennen, zu veranschaulichen: Auf der einen Seite gab es Patient:innen, die sich bis zuletzt nicht in der Verfassung sahen, im Verfahren auszusagen. Zu viele Bedenken, traumatische Erinnerungen und Ängste hinderten sie daran. Auf der anderen Seite sind die Patient:innen, die ausgesagt haben. Auch sie zeigten immer wieder Bedenken, aber äußerten auch ein Gefühl der Verantwortung, und hatten das nötige Selbstvertrauen oder das Gefühl, stabil genug zu sein. Es lässt sich also kein stimmiges Gesamtbild zeichnen. Einerseits das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Anerkennung von Leid und Verbrechen. Andererseits auch Desillusionierung und Ohnmacht, denn die systematische Unterdrückung in der Heimat hält bis heute an, die Praxis des syrischen Geheimdienstes „Mukhabarat“ und Al-Khatib existieren weiterhin und Assad sitzt fester im Sattel der Macht, als viele Beobachter:innen noch vor ein paar Jahren vermutet haben.

Wie hast du den Prozess und seinen Ausgang als begleitender Sozialarbeiter erlebt?

Ich selbst habe den Prozess mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Das hat auch mit meiner länger zurückreichendenden Beschäftigung mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von Völkerrechts-Verbrechen zu tun. Unter anderem war ich 2013/14 als Prozessbeobachter bei dem damaligen Völkermord-Verfahren am OLG Frankfurt im Fall O. Rwa­bu­kombe aktiv. Jüngst hat ja auch selbiges Gericht erstmalig einen Iraker und ehemaligen IS-Anhänger in Verbindung mit dem Völkermord von 2014 an den Jesid:innen verurteilt.

Im ZÜ werden seit vielen Jahren Syrer:innen betreut, die durch Kriegsgewalt oder Folter traumatisiert sind. Gibt es sowas wie eine „Signalwirkung“, die von dem Urteil ausgeht? 

Ich denke schon, dass ein solcher Prozess internationale Signalwirkung haben kann. Deutschland ist ja nicht das einzige Land, welches das Universalitätsprinzip mit Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung solcher Verbrechen, egal wo und von wem sie ausgehen, verankert hat. Zumindest ist nunmehr auch in Deutschland juristisch anerkannt, dass in Syrien unter Baschar al-Assad Teile der Zivilbevölkerung systematisch verfolgt, inhaftiert und gefoltert werden. Das ist gerade in Zeiten von Bedeutung, wo in Europa auf politischer Ebene immer lauter über Rückführungen nach Syrien diskutiert wird. Auch ist zu begrüßen, dass bereits weitere Strafverfahren eingeleitet werden.
Aber die Gerichtsbarkeit sollte sich immer auch die Frage stellen, ob die psychische Gesundheit von Zeug:innen ausreichend geschützt wird. Zeug:innen erleiden während Anhörungen nicht selten Flashbacks und können zusammenbrechen. Das konnte auch am OLG in Koblenz beobachtet werden. Einige Strafrechtler:innen fordern daher zu Recht, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit zur Beiordnung psychosozialer Prozessbegleitung auch für solche Verfahren, die das Völkerstrafgesetzbuch zum Gegenstand haben, schafft.

Hintergrundinfos

> Interview zum Prozessauftakt

> Artikel zum Weltrechtsprinzip

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